Wenn von Disziplin die Rede ist, wird üblicherweise an einen Zustand der Selbstaufgabe gedacht, der das bedingungslose Folgen von Befehlen und die damit einhergehende Unterwerfung des eigenen Willens durch äußere Faktoren meint. Nicht ohne Grund kann man das Wort etymologisch von den Begriffen »Schüler« oder gar »Zucht« ableiten. In jedem Fall nimmt der Disziplinierte die niedere Rolle ein und bewegt sich im Schatten seines überlegenen Programmierers. Selbst wenn die Interessen deckungsgleich sein sollten, bedarf die Disziplin eines Gegenspielers, der sich entweder befehlend über, oder ausführend unter dem anderen befindet. Der gleiche Antagonismus läßt sich auch bei der Selbstdisziplin wiederfinden – der Dominanz des Willens stehen immer die Elemente der Natur in Form von Trieben und Instinkten gegenüber, die entweder unterworfen werden oder die besagte Dominanz des Willens brechen und verhindern. Soll heißen: Wer sich als diszipliniert wähnt, aber die eigenen Triebe der Natur nicht bricht, der stellt lediglich ein Produkt der Züchtigung dar und entsteigt nicht der Natur, sondern wandert in die wohligen vier Wände der Domestikation.
Wirkliche Disziplin muß unausweichlich mit der Dominanz des Willens einhergehen, wenn man sich selbst überkommen oder übersteigen will. Wer sich der gesellschaftlichen Moral entledigt, der wird nicht zum Übermenschen, sondern mag vielleicht dem Herdenmenschen entweichen – bleibt jedoch als Parallelgestalt dem Wesen der Natur gleichgesetzt. Die Dominanz des Willens hingegen impliziert sowohl das Entledigen der normativen Moral als auch die Unterdrückung der natürlichen Instinkte und Triebe, was den Menschen gleichzeitig die Ebene von Moral und Natur transzendieren läßt und ihn auf eine übergeordnete Ebene hebt. Bildlich kann man den Menschen als zentrales Element eines Gefüges betrachten, das sich aus den drei Bausteinen Mensch (als komplettes Wesen), Natur (als innerer Trieb) und Moral (als Zucht) parallel zueinander zusammensetzt und über dem der Übermensch ragt, der sich zwischen göttlicher Ungewißheit und menschlicher Fehlbarkeit befindet. Wer sich ausschließlich seines äußeren Ein-Drucks oder seines inneren Aus-Drucks befreit, der bewegt sich zwar horizontal, verharrt jedoch auf der gleichen Höhe und wächst keineswegs vertikal über den Menschen hinaus.
Der Kampf gegen die Natur ist also keine blutige oder zerstörerische Auseinandersetzung mit der irdischen Tier- und Pflanzenwelt; er ist ein metaphysischer Kampf zwischen dem Sein und Werden. Zugrunde liegt auch ihm der Konflikt zwischen Leben und Tod, aber der Antrieb ist das Prinzip der Lebensbejahung und die Zerstörung der Unterwürfigkeit vor sich selbst. Wer bloß ist, der ist geworden – und geworden ist, was abgeschlossen wurde. Wer hingegen wird, der bewegt sich, der hat Ziele und Visionen – und wird diese mit der Dominanz des Willens verfolgen. Ähnlich zu betrachten sind die Naturelemente Trieb und Instinkt, die uns als Menschen inhärent sind und sich gegensätzlich zum Willen verhalten. Da der Übermensch Bewegung in die Höhe fordert und die Natur der innere Feind des Willens ist, bleibt dem Menschen nur der Kampf gegen sein inneres Sein, um die Natur zu zerschlagen und zum Übermenschen zu werden. Um das Element der Bewegung beibehalten und verfolgen zu können, ist es aber unumgänglich, daß der Zustand des Übermenschen ein utopischer bleibt, der sich in gleicher Geschwindigkeit wie das Werden bewegt – einzig auf diese Weise kann der Kampf gegen die Natur durch die Dominanz des Willens erfolgreich geführt werden. Da dem Übermenschen durch die Bewegung die Lebensbejahung und somit der Konflikt mit Moral und Natur innewohnt, bekräftigt sich auch anhand dieses Beispiels die These, daß das Leben ein Kampf ist.
Abstrakt betrachtet kann die Disziplin auch als Formgeber der Ästhetik dienen – die Dominanz des Willens ist gleichzusetzen mit der Dominanz der Ordnung und somit auch ein Teilstück von Form und Schönheit. Ebenso wie Disziplin, die sich übergeordnet dem Zeitgeist und der Natur widersetzt, stehen Form und Schönheit überzeitlich über der zeitlich gebundenen Subjektivität – Disziplin, ob als Dominanz des Willens oder Dominanz der Ordnung, verfolgt nicht nur das Prinzip der Lebensbejahung, sondern orientiert sich stets an den Gesetzen der Ewigkeit. Die höchste Form der Ästhetik ist demnach, ganz wie die höchste Form des Menschen, ein unerreichbarer Zustand, der dennoch bejahend und nur durch den Kampf gegen das Niedere verfolgt werden kann.
Die Ausführungen abschließend stellt sich nun die Frage, wie man das Konzept der Disziplin auf den politischen und weltanschaulichen Kosmos übertragen kann und ob es womöglich bereits Weltbilder gibt, die inhaltlich damit übereinstimmen.
Wir haben
1. die Dominanz des Willens über die Triebe der Natur und die Moral der Zeit
2. die Dominanz der Ordnung in Form von Schönheit über die Subjektivität
3. das Konzept der Bewegung als Gegenspieler des Vergehens
4. das Prinzip der Lebensbejahung
5. das Übersteigen des irdischen Gefüges
6. den Kampf als unumgänglichen Teil des Lebens
Wenn man ein Volk als seelisch-biologisch-historische Einheit betrachtet und die sechs Thesen nicht nur auf das Individuum anwendet, sondern sie kollektiv begreift, ergeben sich fundamentale Fragmente einer Weltanschauung, die zwar nicht von jedem verfolgt werden kann, aber von der politischen Elite der Zukunft getragen und angewendet werden muß. Wer nicht über sich selbst herrscht, der kann auch nicht über ein Volk herrschen.