Das Buch ist nicht für den Sommer gedacht, auch dem Frühling wird es höchstens im April und bei bewölktem Himmel gerecht. Eher paßt da schon der Herbst. Der dunkelgrüne Leineneinband mit goldener Siebdruckprägung ist eine Augenweide und das bislang schönste Buch, das im Jungeuropa Verlag erschienen ist. Das ansehnliche Äußere wird durch eine auf den Vor- und Nachsatz gedruckte Karte der Stadt Dresden und ein güldenes Lesebändchen ergänzt. Ohne den Inhalt zu kennen, landete dieses außerordentlich schöne Buch im Einkaufswagen. Wertschätzend habe ich auch die Signierung des Autors mit persönlicher Widmung aufgenommen. Jungeuropa hat noch Uhren, die ticken. Es geht übrigens um »Herrengedeck« von Volker Zierke.
Gleich zu Beginn fällt mir auf, daß Zierke eine Leidenschaft für Hauptsätze hat. Kurz und knackig. Seine vorigen Romane habe ich nicht gelesen und bin dementsprechend ohne Erwartungen an den Schreibstil in die Buchseiten marschiert. Es stockt ein wenig beim Lesen und jedes Wort, das meine Augen erhaschen, hallt mir in Volker Zierkes Stimme in den Ohren nach. Man merkt sogleich, daß er es wirklich geschrieben hat. Und das ist wohl ein gutes Merkmal, oder? Der »zierkereske« Stil spricht für eine äußerst starke literarische Wiedererkennung, hält mich eingangs aber etwas vom vollständigen Eintauchen in die Handlung ab; als würde der Hauptcharakter im Schatten des Autors stehen. Die Sätze muten nahezu autobiographisch an, doch nach ein paar Seiten habe ich mich daran gewöhnt und kann mich dem Inhalt aufmerksam widmen. Einige Dialoge habe ich als zu schriftlich wahrgenommen – sie lesen sich nicht wie eine gesprochene Konversation, sondern wirken wie niedergeschriebene Sätze, die ein Gespräch darstellen sollen. Abseits davon gefallen mir die schnellen Wechsel zwischen detaillierter, feinfühliger Beschreibungen, zum Beispiel der Schönheit Dresdens, und vulgärer Beschimpfungen gegenüber »Schwuchteln« und »Fotzen«. Es ist kein Szeneroman, sondern ein Roman, der von einem jungen Mann handelt, der mit der Szene verbunden ist; der in der Szene umhertaumelt. An mancher Stelle mußte ich an Europapowerbrutal denken, aber Zierkes Werk ist tiefgründiger. Deutlich düsterer, auch bedrückender, und es geht auch nicht um die rechte Szene an sich, sondern um das Einzelschicksal des Protagonisten.
Schwarzer Schleim sitzt tief in den Atemwegen des Ich-Erzählers. Er blockiert dessen Lungenfunktion und formt einen eigenen Willen, der den Protagonisten von innen gefangen hält. Ein Parasit, wohnhaft tief im Motor des Menschen, ankerartig und Peitschenhiebe verteilend. Der Diktator des Geistes, der Herrscher des Körpers. Dagegen hilft kein Hustensaft, kein Medikament kann den Hauptcharakter von seinem Leid befreien. Mehrere Besuche beim Arzt helfen ihm auch nicht weiter. Der schwarze Schleim ist die Gegenwart. Die dunkle, selbstständige Masse ist die Zivilisation, der Winter, meinetwegen das Kali Yuga. Morgens holt den Ich-Erzähler die Realität ein: der dunkle Schleim läßt sich nicht wieder herunterschlucken oder ausspeien, auch alle Versuche, den Parasiten von sich zu schütteln, haben versagt. Er versucht durch die Gassen der Stadt zu streifen, nachts sind zahlreiche Tiere unterwegs – und er ist eines von ihnen. Was wissen die Tiere schon von unserem Zeitalter? Die Natur bleibt doch Natur. Aber ewig kann er nicht unterwegs sein und auch der Alkohol bietet nur kurzzeitige Befreiung aus seiner Gefangenschaft. Um die kurze Zeit zu verlängern, trinkt er eben immer mehr Alkohol. Zum politischen Aktivismus entwickelte der Protagonist zunehmend eine Distanz, die in ablehnender Haltung mündete und Burschenschaften dienen ihm bloß als Mittel zum Zweck. Auch seine Freundin zu ficken bietet nur kurzweilige Erfüllung, die das Körperliche nicht übersteigt. Manchmal versucht er tiefer zu graben, bis unter die dicken Schichten des schwarzen Schleims hinab. Dann scheint dieser von ihm zu weichen, er löst sich auf. Wenn der Ich-Erzähler zu seiner Zeit beim Militär abschweift, oder wenn er die Wunden der alten Soldaten noch in sich selbst klaffen spürt; auch der Gedanke an die leeren Menschenhüllen, die durch die Innenstadt schlurfen, scheint etwas in ihm zu wecken, das der Schleim blockiert. Aber die Masse ist zu dicht, sie ist zu dick und gewinnt schnell wieder die Oberhand. Wenn die Natur ihn überwältigt, dann weicht der Schleim. Über dem Abstrakten steht der Instinkt, und der Ich-Erzähler steht über seiner Freundin Idylle, die vor ihm auf dem Bett liegt. Das Tier in ihm, das ihn durch die Gassen Dresdens streifen läßt, kommt zum Vorschein. »Doch Reue ist so deutsch.« Der Protagonist erzählt vom »lange[n] Nachspiel, nachdem man ein bißchen geträumt hat.« Ist der düstere Schleim – die Realität – das finstere Nachspiel der Flucht in die Träume? Es ist, als würde er gen Ende des Romans seine Abkehr von dem, was er nicht länger fühlt, bereuen. Dann bricht das Buch ab. Nicht sehr katholisch.
Wer ebenfalls schwarzen Schleim in seiner Lunge trägt, der wird sich in dem Roman wiederfinden können. Vielleicht – vermutlich – wird er ihm sogar gefallen. Aber Heilung, die darf er hier nicht suchen. Es ist ein Buch inmitten grauen Nebels, das für ein Werk von rechter Seite außergewöhnlich viele moralische, oder sagen wir lieber mehr-oder-weniger-rechte, Schlösser mit einem literarischen Bolzenschneider aufbricht. Zierke kann schreiben und als Leser wird man es genießen.
Ich greife, suchend nach dem Buch, in Richtung des Couchtisches ... aber da liegt nichts mehr. Das Buch steht nun an seinem vorgesehenen Platz im Bücherregal. Irgendwie vermisse ich es.