Der Zug hätte eigentlich in Berenswalde halten sollen. Stattdessen stand er nun rund einen Kilometer vor den ersten Betonplatten des schmutzigen Bahnsteiges und hüllte sich in den grauen Morgennebel, der sich mit leichtem Nieselregen vermischte. Scheiß Polen… Nach kurzer Zeit und einer unverständlichen Durchsage wurden die Zugtüren geöffnet und ein Sprung ins Gleisbett befreite mich aus der Warterei. Durch eine kleine Lücke im rostigen Zaun konnten die Fahrgäste die parallellaufende Straße erreichen und sich den Weg zum Bahnhof über den nassen Asphalt bahnen.
Berenswalde ist eine pommersche Kleinstadt, die sich zwischen hügeligen Endmoränen, goldenen Weizenfeldern, dunklen Mischwäldern und tiefblauen Seen mit deutschen Wurzeln durch die neumärkische Erde wühlt. 1945 wurde neben zigtausenden Deutschen auch meine Familie durch die Russen vertrieben und mußte mehrere Güter und hunderte Hektar Land hinter sich lassen. 2018 trat ich die Reise in die Vergangenheit an, um zumindest ein Mal die klare Luft einatmen zu können, die mein Urgroßvater in seinen Büchern über die alte Heimat beschrieben hatte.
Gedanken- und erwartungsvoll lief ich nun also auf das Bahnhofsgebäude zu, voller Ungewißheit, ob der Tag eine Reise ins wehmütige Vorgestern ermöglichen würde oder die harte Realität mich womöglich mit einer geraden Rechten niederschlagen würde. Die Faust in der rechten Jackentasche geballt, passierte ich den Bahnhof, dessen Putz verschmutzt und rissig die Halle bekleidete und durch den angeschlagenen polnischen Stadtnamen zusätzlich verunstaltet wurde. Hier sollte Berenswalde stehen! Der Straße folgend überquerte ich die Gleise über eine Brücke, an der das altehrwürdige Stadtwappen prangte, das die Polen unverändert gelassen hatten… der rote Adler Brandenburgs vermittelte ein erstes Gefühl von Heimat und auch das naßfrische Sauwetter konnte mir das aufkommende Quäntchen Freude nicht rauben. Langsam wich der Kleinstadtdschungel mit seinen schäbigen Einfamilienhäusern der Weite des Landes. Über einen löchrigen Feldweg, dessen Kuhlen mit schmutzigem Regenwasser gefüllt waren, marschierte ich an der alten Wohnhausruine des ehemaligen Direktors der Berenswalder Zuckerfabrik vorbei, pfiff dem Klatschmohn, der mich am Wegesrand begrüßte, entgegen und konnte in der Ferne bereits die Silos von Heinrichsaue erblicken.
Heinrichsaue war der Hauptsitz meines Urgroßvaters und beinhaltete neben einem prächtigen Gutshaus mehrere Ställe für Rindvieh und Schlachtschweine, eine große Scheune, eine Handvoll Deputantenhäuser, zwei Hallen für Landmaschinen und andere Fahrzeuge und eine Ackerfläche von ungefähr 120 Hektar, durch die eine Schmalspur-Pferde-Feldbahn direkt zu der Zuckerfabrik führte. Einst blühend und voller Leben, machte der Gutshof nun einen verschlafenen und heruntergekommenen Eindruck auf mich, als ich langsam und mit einem mulmigen Gefühl auf die Silos zulief.
An einem kleinen Teich, der nur zur Hälfte umzäunt war, schlenderten ein paar weiße Gänse und einige Hühner umher – der Hof schien zumindest nicht völlig ausgestorben zu sein. Den alten Deputantenhäusern wurde ein neuer Anstrich verpaßt, aber die Ställe und Hallen erweckten den Anschein in der Zeit stehengeblieben zu sein – genauer gesagt war die Zeit an ihnen vorbeigezogen und es grenzte an ein Wunder, daß die Gebäude überhaupt noch standen. An mehreren Stellen waren die Dächer eingestürzt und Teile des Mauerwerks vollständig herausgebrochen und lagen, von Unkraut erobert, dort, wo einst ein dunkler Dielenboden die Tanzbeine zum Schwingen eingeladen hatte. Von der großen Scheune war einzig ein Eckpfeiler vorhanden und der damals so gepflegte Hofplatz diente als Schrottherberge und Autofriedhof. Besondere Wehmut ergriff mich, als ich den Urwald sah, an dessen Stelle das 25-Meter breite Gutshaus, von zwei großen Eichen flankiert, gestanden hatte. Die beiden Bäume hatten, nachdem die Russen das Gebäude zerstört hatten, der Ruine den Kampf angesagt und sich ausgebreitet; einzig drei Treppenstufen blieben verschont. Hinter mir vernahm ich den Motor eines Autos, das auf den grasbedeckten Hofplatz fuhr. Ein dicklicher Mann um die 40 stieg aus und schaute in meine Richtung. Ich lief ihm entgegen und fragte mich, was ein Klaus Kinski wohl machen würde. Er hätte eine Peitsche genommen und dem Polacken in die Fresse gehauen! Vielleicht wenn der Spinner kein Pole gewesen wäre. Jedenfalls wurde ich zaghaft und mißtrauisch begrüßt und nachdem ich mich vorgestellt und meine Bewegründe erläutert hatte, führte der Mann, der sich als neuer Besitzer des Gutshofes herausstellte und Raffael heißt, mich durch Gebäude und Ruinen und war voll ehrlichen Interesses über die Geschichte von Heinrichsaue und machte große Augen, als er Photos des einst so eindrucksvollen Besitzes meiner Familie sah. Er stelle mich seinem Sohn vor und gestattet mir das gesamte Gelände ausgiebig zu erkunden und Bilder zu knipsen, bis die Linse qualmt.
Von drei Störchen beobachtet, verließ ich den Hof wieder und steuerte mein nächstes Ziel, unser ehemaliges Gut Tiefenbruch an, das mein Ururgroßvater samt der 90 Hektar Ackerfläche im Juni 1913 erworben hatte. Die Wolkendecke war mittlerweile aufgebrochen und die Reflektionen vereinzelter Sonnenstrahlen, die auf mit Bierdosen behangene Vogelscheuchen stießen, blendeten mich, während ich dem Feldweg zum Gut folgte, das nicht weit von Heinrichsaue entfernt liegt. Auch wenn es mir bereits bekannt war, daß weder die Scheunen und Ställe noch das weiße Wohnhaus mit seinem angelegten Obstgarten vorhanden war, schmerzte es dennoch, die Ruinen im Dickicht eines kleinen Haines vorzufinden. Die dortigen Deputantenhäuser waren noch vorhanden und aus deren Schatten wurde ich stürmisch von einem kleinen, kläffenden Köter begrüßt, der energisch von seinem Besitzer zurückgepfiffen wurde. Ein hagerer Rentner mit tiefen Augen und einem freundlichen, leicht schüchternen Lächeln grüßte mich und sprach, zu meiner Erleichterung, gutes Deutsch. Er hatte jahrelang im Ruhrgebiet in der Autoproduktion gearbeitet und lud mich zu selbstangebauten und eingelegten Gurken, eigens hergestellter Leberwurst und selbstgebackenem Brot ein, das seine Frau, lebhaft auf Polnisch redend, auftischte. Das Gespräch war nicht sonderlich tiefgründig und da ich einen straffen Zeitplan verfolgte, verabschiedete ich mich, nachdem ich von der hausgemachten Kost probiert hatte. Der Mann bestand darauf, mich auf seinem Motorroller wieder zurück in die Stadt zu fahren. Mit der einen Hand versuchte ich mich an ihm festzuhalten und mit der anderen Photos zu schießen, während der so gastfreundliche Pole wie ein Verrückter durch die Schlaglöcher donnerte und meine Kamera vorsichtshalber wieder schleunigst in der Tasche verschwand.
Vom Bahnhofsparkplatz aus schlenderte ich die Hauptstraße in Richtung der Stadtmitte, wo das Wahrzeichen der Stadt, eine alte und pompöse Backsteinkirche, mein Ziel war, das jedoch leider renoviert wurde und mir der Zugang verwehrt blieb. An der Hauptstraße hielt ich Ausschau nach Relikten deutscher Architektur, die leider nur vereinzelt in Form gemalter Jahreszahlen oder typisch deutscher Backsteinbauten zu erkennen waren. Erstaunt, aber erfreut, entdeckte ich den Schriftzug »Elementarschule«, der über dem Haupteingang des örtlichen Schulgebäudes prangte und den mein Großvater als Kind wohl täglich zu Gesicht bekommen hat. Das alte Krankenhaus war einzig mit einem neuen Anstrich versehen worden, aber bis auf vereinzelte Gebäude aus Backstein, wie die nicht länger genutzte Mühle und ein paar leerstehende Kleinfabriken und Bauernhöfe am Rande der tristen Stadt, war leider nicht sonderlich viel vorzufinden. Wo einst ein großer Paradeplatz der bewundernswerten Kirche zu Füßen lag und einen freien Blick auf das Rathaus zuließ, führten nun unebene Straßen an Ramschläden und Dönerbuden vorbei. Das Bild der Neuzeit wurde abgerundet durch graue Plattenbauten und flachdächrige Wohnhäuser, denen auch die bunt gestrichenen Fassaden keine Farbe verliehen.
Ich hatte genug gesehen und war mittlerweile wieder am Bahnhof angekommen, um den Zug nach Hermannswalde zu nehmen, um von dort in das angrenzende Dorf zu wandern, in dem meine Urgoßeltern 1932 geheiratet hatten und dessen Kirche sich noch immer in einem tadellosen Zustand befinden sollte. Der Zug fuhr durch einen dichter werdenden Wald und hielt schließlich an einer Lichtung, wo außer einem kurzen Bahnsteig und einem kleinen Stationsgebäude, dessen einst weinroten Türen beinahe gänzlich vom Lack befreit worden waren, nichts zu finden war. Außer mir stieg noch eine alte Frau aus, die leicht gebeugt zu einem kleinen Wagen lief, in dem ihr Ehemann auf sie wartete. Wenngleich die beiden weder Deutsch noch Englisch und ich kein Polnisch sprechen konnte, gaben sie mir zu verstehen, daß sie mich mitnehmen können und ich nahm die Einladung dankend an. Mit Händen und Füßen versuchte ich ihnen zu erklären, was mich in ein solches Kaff führte und nachdem ich auf den hölzernen Rosenkranz zeigte, der mich, vom Rückspiegel hängend, im Takt der Geschwindigkeit metronomartig zu hypnotisieren versuchte, fuhren sie direkt zum Pfarrhaus der Gemeinde, wo der Mann begann an die schwere Tür zu klopfen. Niemand öffnete, aber langsam versammelte sich eine neugierige Menschentraube um das Auto, in dem mir allmählich unbehaglich zumute wurde. Glücklicherweise stieß ein junger Bursche dazu, der einwandfreies Englisch sprach und dem ich mein Anliegen erläutern konnte. Nachdem die Dorfbewohner sich wieder verzogen und ich dem alten Ehepaar für die Fahrt gedankt hatte, führte er mich um die Kirche herum und bot mir eine Mahlzeit und einen Schlafplatz an, was ich dankend ablehnte.
Mein Weg sollte mich nun wieder zurück nach Hermannswalde, durch einen dunklen Wald führen, der mir als Sonnenschutz äußerst gelegen kam und in dem sich eine tausendjährige Eiche befand, die ich gerne beäugen wollte. Zwar machte sie nicht mehr den Eindruck, als würde sie weitere tausend Jahre überleben, aber ehrfürchtig verweilte ich unter ihr und malte mir aus, was sie wohl alles schon gesehen und erlebt haben müßte… Hermannswalde überraschte mich positiv – die meisten der urigen Backsteinhäuschen waren erhalten geblieben und selbst von unserem dortigen ehemaligen Gutshof fand ich zumindest Scheune und Ställe in einem ordentlichen Zustand vor. Auch hier war das Wohnhaus jedoch zu einer Ruine verkommen. Östlich des kleinen Dorfes, von hohem Schilf und zahlreichen Bäumen umringt, zeigte sich ein See, über den leichte Brisen mir entgegentraten und mich zusammen mit der warmen Sonne zu einem frischen Bad einluden.
Mit kühlem Kopf kam ich schließlich wieder am Bahnsteig an. Der lange Tag war geschafft und die zahlreichen Eindrücke schossen mir wild durch den Kopf, bereit geordnet zu werden. Ein Gefühl der Wehmut machte sich in mir breit und vermischte sich zugleich mit einer Zufriedenheit, die wiederum durch die Realität verdrängt wurde. Eine so herrliche Landschaft, die eigentlich meine Heimat ist… und doch war an den Dörfern und Städten so wenig deutsch. Wo die Stadt mich mit Traurigkeit füllte, schenkten mir die Wälder und Felder das Gefühl der Sehnsucht nach eben jenem Boden, der meine Wurzeln beheimatet. Die Menschen in den Ostgebieten mögen polnisch oder russisch sprechen, aber die Bäume flüstern Deutsch und singen noch immer das Lied der Heimat…
Sämtliche Städte- und Gutsnamen wurden verändert.